Mutprobe: Lukas will hoch hinaus
2020: Das Jahr für besondere Experimente
Vösendorf, 23. Juni, 09.00 Uhr: Es waren vier Trainingswürfe der ganz besonderen Art: Lukas Weißhaidinger ließ sich mit einem Kran (samt Arbeitsbühne) auf einen 22-m-hohen Stuhl hieven. Normalerweise zielt der WM-Dritte Tag ein Tag aus – vom Wurffeld im BSFZ Südstadt aus - auf den XXXLarge-Stuhl in roter Farbe. Immer wieder, manchmal bis zu 70 Mal pro Tag. Heute passierte es andersherum. Da war Lukas vom Stuhl – aus 22 Meter Höhe - auf seine Wirkungsstätte. Die Weite (rund 55 Meter) spielte in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle. „Es geht um spektakuläre Bilder und ums besondere Erlebnis. Ich muss zugeben: So nervös war ich im Training noch nie!“
Das Sport-Jahr 2020 steht Kopf. Der Corona-Virus zwang zum 8-wöchigen Heimtraining, alle internationalen Wettkämpfe wurden bis auf Weiteres abgesagt. Ob der Re-Start im August planmäßig stattfinden kann, steht nach wie vor in den Sternen. Diskus-Ass Lukas Weißhaidinger nutzt die Olympia-Verschiebung (ins Jahr 2021) kurzerhand zum Experimentieren. Zunächst ging der 28-Jährige drei Mal in Schwechat-Rannersdorf auf Weitenjagd, scheiterte zwar an der 70-m-Traummarke, auch an einem neuen österreichischen Rekord. Mit 3 Würfen über 68 Meter katapultierte er sich aber auf Rang drei im IAAF-Ranking. Nur Weltmeister Daniel Stahl (SWE/70,25 m) warf nach dem Corona-Shutdown noch weiter als der ÖLV-Rekordhalter: Von den Top-10-Würfen im heurigen Jahr gehen nicht weniger als vier auf das Konto des Oberösterreichers.
Der nächste Wettkampf ist für 27. Juni geplant, da wird Lukas Weißhaidinger beim Austrian Top-Meeting in St. Pölten antreten. Heute, Dienstag, bittet der Rekordhalter zuerst zum außergewöhnlichen Fotoshooting, anschließend zur obligaten Saison-Vorschau. „Es war ein Start, der nicht komischer hätte sein können“, denkt Lukas Weißhaidinger an den 25. Mai 2020 zurück. „Vor dem ersten Wettkampf bin ich jedes Jahr besonders nervös, das ist nichts Neues. Man will wissen, wo man steht, hadert noch mit seiner Form und versucht sich stark zu reden“, meint der 1,96-m-Hüne. Doch diesmal war es ungleich schwieriger: „Bis Mitte März hätte meine Vorbereitung nicht besser verlaufen können. Ich war verletzungsfrei, wir haben mit eigens für uns konstruierten Kraftgeräten neue Reize im Training gesetzt. Olympia 2020 in Tokio rückte näher und ich wollte am 1. August den besten Wettkampf meines Lebens absolvieren, im Olympia-Finale im Idealfall die 70-m-Marke knacken. Soweit die Theorie…“
Doch es kam anders: COVID-19 legte die (Sport-) Welt lahm. Eine Großveranstaltung nach der anderen wurde abgesagt. „Home-Office“ statt Olympia-Vorbereitung. Improvisierte nationale Mini-Meetings ohne Zuschauer statt Diamond League oder Intercontinental Tour. „Vielen Top-Stars fehlt die Motivation. Luki war nach der Olympia-Verschiebung ein paar Tage vom Donner gerührt. Dann haben wir uns neue Ziele gesetzt. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wir arbeiten jeden Tag daran, dass er im Olympia-Finale um Gold mitwerfen kann“, meint Coach Gregor Högler. „Das wichtigste Ziel haben wir schon jetzt, nach nur drei Test-Meetings, erreicht: Ich habe bewiesen, dass ich mich weiterentwickelt habe, definitiv der stärkste Lukas Weißhaidinger aller Zeiten bin: Und Weltmeister Daniel Stahl und Vize Fedrick Dacres wissen jetzt endgültig: Mich müssen sie in Tokio auf der Rechnung haben“, betont der Oberösterreicher mit dem Anflug eines Lächelns.
IM KURZ-INTERVIEW - Österreichs Nummer eins über…
… Tokio 2021: „120 Tage vor der Eröffnungsfeier wurden die Olympischen Spiele verschoben. Ich habe – aus professionellen Gründen – bis zum 24. März so getan, als stünden die Spiele nicht in Gefahr. Außerdem gilt: Ich will besser werden, daran habe ich 30 Wochen gearbeitet. Die Olympia-Vorbereitung war ein Härtetest. Wenn du dann telefonisch von der Verschiebung der Spiele erfährst, bist du enttäuscht und niedergeschlagen. Mit einem Schlag hast Du kein konkretes Ziel. Für ein paar Tage habe ich mich an die EM in Paris geklammert, aber auch die wurde abgesagt. Natürlich war die Verschiebung unausweichlich und absolut richtig. Ich hoffe, dass 2021 Zuschauer im Stadion sein werden, das Diskus-Finale olympia-würdig abläuft. Das wäre mein großer Wunsch – daran glaube ich.“
… die Saison 2020: „Ein Musiker würde sagen: Ich gehe im Sommer auf Österreich-Tour. Die Austrian Top-Meetings in St. Pölten, Eisenstadt und Andorf sind für mich Pflicht. Ich freue mich auf die Heim-Atmosphäre, bin vor meiner Familie und Freunden mitunter nervöser als vor Diamond-League-Meetings. Ob auch international hochkarätige Meetings zu Stande kommen, zum Beispiel Stockholm Mitte August, bleibt abzuwarten. Das lässt sich derzeit seriös noch nicht abschätzen. Ehrlich gesagt, bin ich im Moment eher skeptisch, was den internationalen Wettkampf-Kalender betrifft.“
… private Wünsche: „Ich werde auch privat auf Österreich setzen, will mit einem Bus durchs Land fahren und zwischen den Meetings ein bisschen ausspannen. Wann dann, wenn nicht jetzt? So wenige Meeting-Angebote wie heuer werde ich in den nächsten Jahren sicher nicht mehr haben.“
… Neuerungen im Training: „In der Sportwissenschaft sind wir auf Eigeninitiative bzw. starke Partner angewiesen. Ich habe in der aktuellen Vorbereitung erstmals computerunterstütztes Krafttraining ausprobiert. Mit der Firma Sussmed und intelligent motion haben wir den Kraft-Trainings-Computer ,Lifter´ auf meine individuellen Bedürfnisse abgestimmt und schrittweise weiterentwickelt. Das sogenannte desmodromische Krafttraining* gibt mir die Möglichkeit höhere Reize ohne Verletzungsrisiko zu setzen.“
* Einsatz erhöhter exzentrischer Lasten
ZAHLEN & FAKTEN – Lukas Weißhaidinger, Diskuswerfen (All-Time-Records): 2020 – Die besten Würfe des Jahres – Top-5 (Stand: 23.06.2020):
70,25 m: Daniel Stahl (SWE), Helsingborg, 21.06.2020
69,67 m: Fedrick Dacres (JAM), Kingston, 08.02.2020
68,63 m: Lukas Weißhaidinger (AUT), Schwechat-Rannersdorf, 25.05.2020
68,56 m: LW, Schwechat-Rannersdorf, 31.05.2020
68,19 m: LW, Schwechat-Rannersdorf, 25.05.2020